2. Bedeutung von Komplexität und Grundregeln für das Management
Vor dem Hintergrund der Paradoxie des Begriffs “Komplexitätsmanagements” ist die Frage nach der Bedeutung der Entdeckung der Komplexität für die Managementtheorie eine sehr schwerwiegende. Würde man die vielen Erkenntnisse aus der Komplexitätsforschung in die Managementtheorie integrieren, bliebe meines Erachtens wenig vom Kern der derzeitig bestehenden Managementtheorie übrig. Welche Vorschläge der Erweiterung der Managementtheorie durch Erkenntnisse über Komplexität ich habe, möchte ich in den folgenden drei Abschnitten aufzeigen.
2.1 Komplexität wahrnehmen und anerkennen
In diesem Abschnitt soll es um die Forderung gehen, einerseits den Blick für Komplexität zu schärfen, um der „Gefahr“ zu entgehen, komplexe Situationen als „einfach“ einzuschätzen, und andererseits im Falle einer komplexen Situation angemessen, d.h. möglicherweise nicht mit bewährten Mitteln, zu reagieren. Zuerst müssen also Entscheidungskriterien ermittelt werden, die eine Unterscheidung zwischen komplexen und nicht-komplexen Situationen oder Systemen ermöglichen.
Eine erste Möglichkeit liefert die Unterscheidung zwischen trivialen und nicht-trivialen Maschinen (Foerster 1993). Heinz von Foerster beschreibt in seiner Arbeit triviale Maschinen, die eine durchschaubare, einfach Logik aufweisen. Ein Input, x, durchläuft eine Funktion, f, und wird dadurch zum Output y. Die Funktion bestimmt, in welcher Art sich der Input verändert. Heinz von Foerster nimmt hier das Beispiel einer Quadrierungsfunktion, die aus einem x mit dem Wert „vier“ ein y mit dem Wert „16“ macht. Wurde diese Funktion einmal von einem Beobachter durchschaut, sind die Ergebnisse für jedes x vorhersagbar, es handelt sich somit um eine triviale Maschine (vgl. ebd. S. 245f). Die Funktionsweise der Maschine ist auch in praktische Situationen eines Managers übertragbar. Bestellt ein Manager im Einkauf eines Unternehmens die doppelte Menge an Rohmaterial zum selben Preis, dann verdoppeln sich auch die Kosten für die Beschaffung des Rohmaterials. Es handelt sich um ein eindeutiges Ursache-Wirkungs-Verhältnis. Nicht trivial, und damit komplex, wird es, wenn die Maschine zusätzlich zu der Funktion f auch noch eine Zustandsfunktion z erhält. Diese Zustandsfunktion ist für einen Beobachtbar intransparent und führt dazu, dass dasselbe x zu unterschiedlichen Outputs führen kann, weil sich die Zustandsfunktion verändert hat (vgl. ebd. S. 247f). Solche nicht-trivialen Maschinen treten überall auf. Jeder Mensch stellt beispielsweise eine solche Maschine da und kann als komplexes Phänomen auch auf denselben Input unterschiedlich reagieren. So kann ein Mitarbeiter als Folge auf ein Lob noch motivierter an seinem Projekt arbeiten und sich ein anderes Mal nach demselben Lob ein Stück zurücknehmen in der Annahme, er habe offensichtlich schon genug vorgearbeitet. In der Managementtheorie kommt es nun darauf an, genau zu analysieren, ob man es mit einer „trivialen Maschine“, also einfach Kausalitätsbeziehungen zu tun hat, oder ob es sich um komplexe, nicht-triviale Verhältnisse handelt.
Eine zweite Möglichkeit zu Unterscheidung zwischen komplexen und nicht-komplexen Zuständen liefern Mary Boone und David Snowden. Laut deren Ausführungen weisen Kontexte und Systeme eine Reihe von Charakteristiken auf, anhand derer ermittelt werden kann, ob es sich um einfache, komplizierte, komplexe oder chaotische Systeme handelt. Zu den Charakteristika komplexer Systeme zählen: eine große Zahl von interagierenden Elementen, nicht-lineare Interaktionen, Emergenz, das System hat eine Geschichte und sowohl das System, als auch die Umwelt sind dynamisch (Boone 2004, S. 3). Boone und Snowden haben für jeden Systemzustand Handlungsempfehlungen für Manager. Für unsere Betrachtung sind die Empfehlungen für komplexe Kontexte besonders von Belang: Sie empfehlen ein Vorgehen mit den drei Schritten „probe“, „sense“ und „respond“ (ebd. S. 4). Als erstes soll also ausprobiert werden, um im zweiten Schritt nachzuvollziehen, was nach dem Ausprobieren passiert ist, damit im dritten Schritt wiederum auf diese Erkenntnis reagiert werden kann. Im Unterschied zu komplizierten Fragestellungen, gibt es nämlich bei komplexen Fragestellungen keine „richtige“ Antwort, weil die Auswirkungen jeder Entscheidung nicht vorhergesehen werden können (vgl. ebd. S. 3). Sie nennen dies den Unterschied zwischen einem Ferrari, der zwar eine komplizierte Zusammenstellung einzelner Bauteile ist, aber von einem Ingenieur repariert werden kann und dem Regenwald, der als Ökosystem sehr sensibel und teils unberechenbar auf menschliche Eingriffe reagiert und daher ein komplexes Phänomen darstellt (vgl. ebd. S. 5). Für den Manager und die Managementtheorie ist es also wichtig, genau zu analysieren, um welche Art von Fragestellung oder Situation es sich handelt, bevor man entscheidet.
Eine ähnliche Argumentation vollzieht bereits Warren Weaver 1948 in seinem Beitrag „Science and Complexity“. Auch er führt eine Unterscheidung ein zwischen „simple problems“, „organized complexity“ und „disorganized complexity“ (Weaver 1948, S. 537ff). „Simple problems“ sind bestimmt durch wenige variablen, die in klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen stehen und dadurch berechenbar werden (wie zum Beispiel zwei Billard Kugeln, von denen eine die andere anstößt), ähnlich den einfachen und komplizierten Zuständen bei Boone und Snowden. „Disorganized Complexity“ findet statt, wenn sehr viele Variablen aufeinander wirken und im Einzelnen nicht berechenbare Zustände entstehen. Weaver nimmt hier das Beispiel eines riesigen Billardtisches mit Millionen von Kugeln. Auszurechnen, wie sich die einzelnen Kugeln verhalten werden, scheint ihm nicht möglich, allerdings können durch die hohe Anzahl der Kugeln statistische Aussagen getroffen werden (vgl. ebd. S. 538). Zwischen diesen beiden Extremzuständen findet sich die „organized complexity“, die Weaver definiert als „problems which involve dealing simultaneously with a sizable number of factors which are interrelated into an organic whole” (ebd. S. 539; kursiv i.O.). Diese Probleme lassen sich laut Weaver eben nicht mit quantitativen Methoden der Statistik lösen, sondern bedürfen einer besonderen Handhabung. Welche Vorschläge Weaver im Einzelnen liefert wird in 2.2 weiter ausgeführt werden, relevant für diesen Abschnitt ist, dass die Feststellung, ob man es mit „simple problems“ oder „(dis-) organized complexity“ zu tun hat, darüber entscheidet, welche Methoden angewandt werden können.
Es hat sich gezeigt, dass es unterschiedliche theoretische Möglichkeiten gibt, Entscheidungsgrundlagen, Situationen, Kontexte oder ganze Systeme dahingehend zu untersuchen, ob sie komplex sind oder nicht und daraufhin zu überlegen, welche Verhaltensweisen diesem Zustand angemessen sind. Allerdings bedeutet mit Komplexität zu rechnen nicht, Kausalitäten auszuschließen, sondern nur die Unüberschaubarkeit dieser anzuerkennen. Die unbewusste Reduktion von Komplexität durch eine Fehleinschätzung der Situation kann demnach zur Wahl der falschen Mittel und zum Misserfolg des Vorhabens führen. Zusammenfassend möchte ich daher als erste Grundregel des Komplexitätsmanagements festhalten:
Überprüfe bewusst, mit welcher Art von System, Entscheidung, Situation oder Kontext Du es zu tun hast, indem Du die entscheidenden Variablen und deren Zusammenhänge auf Komplexität hin analysierst. Wähle dem Ergebnis entsprechend angemessene Methoden und Verhaltensweisen aus.