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2.2 Rationalität in komplexen Kontexten

Wie in 2.1 beschrieben wurde, sind komplexe Situationen unter anderem dadurch bestimmt, dass keine klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge mehr identifiziert werden können. Mit anderen Worten: Egal welche Entscheidung gefällt wird, oder wie man sich verhält, es ist unklar, wie sich die Situation entwickeln wird. Es ist nicht möglich, im Vorhinein die richtige Antwort auf eine Frage, oder die richtige Alternative einer Entscheidung zu kennen, bzw. sie zu berechnen. Dies wäre allerdings Bedingung für rationales Verhalten. Daraus leitet sich ab, dass rationales Verhalten in komplexen Situationen nicht möglich ist – und der Versuch, rational zu handeln, die Komplexität sogar noch steigern kann. Oder mit den Worten von James March: “There are many instances in which the use of a technology of rationality in a relatively complex situation has been described as leading to extraordinary, even catastrophic failures” (March 2006, S. 208). Er nennt hier als Beispiel den Zerfall des Kommunismus oder die Strategie der USA im Vietnamkrieg.

James March beschreibt bezogen auf Organisationen, dass diese ein Gleichgewicht zwischen „Exploitation“ (dem intensiven Nutzen von bereits gewonnenem Wissen) und „Exploration“ (die kreative Suche nach neuem Wissen) brauchen (vgl. March 2006, S. 205f). Typisch für „Exploitation“ ist das Anwenden bereits bewährter Lösungsmechanismen auf neue Probleme – ähnlich der Routineprogramme bei Luhmann (Luhmann 1971, S. 118ff), was wiederum problematisch wird, wenn die neuen Probleme falsch eingeschätzt werden und eigentlich neuer statt bewährter Lösungen bedürfen. March beschreibt solche Situationen in extremer Form so: „[…] exploitation eliminates exploration; efficiency eliminates foolishness; unity eliminates diversity.” (March 2006, S. 206). Um dem vorzubeugen, die Balance zwischen „Exploitation“ und „Exploration“ zu stärken und nicht in die “competency trap” (ebd.) zu tappen, fordert March das Zulassen von mehr Torheit (Foolishness) im Organisationalltag. Er fordert, bei komplexen Herausforderungen (wie es z.B. ein Konkurrenzkampf im Markt ist) rationale Kalküle vermeintlich naiven Strategien des „Ausprobierens“ unterzuordnen und damit einerseits der Komplexität der Situation angemessen zu reagieren und andererseits die Möglichkeit zu schaffen, neues Wissen zu produzieren und mit diesen Lösungskompetenzen neue Probleme bewältigen zu können (vgl. ebd. S. 211). Wörtlich sagt March an anderer Stelle ein paar Jahre zuvor: “Wenn Organisationen wirklich intelligent werden wollen, müssen sie lernen, sich Torheiten zu leisten!” (March 2001, S. 26).

Der zweite Autor, der zu diesem Abschnitt passende Überlegungen angestellt hat, ist Niklas Luhmann. Ausgehend von von Foersters Definition, dass nur unentscheidbare Fragen entschieden werden können, weil es auf entscheidbare Fragen bereits die „richtige“ Antwort gibt, leitet Luhmann her, dass Entscheidungen ein Moment der Willkür aufweisen (vgl. Luhmann 1993, S. 287f). Gleichzeitig bedeutet dies für ihn auch, dass sich „die Vorstellung, […] richtige Entscheidungen seien durch rationale Abwägung von Zwecken und Mitteln zu erreichen, sich in voller Auflösung [befindet]“ (ebd. S. 288). An dieser Stelle liegt der Transfer darin zu sagen, dass unentscheidbare Fragen im Sinne von Foersters eine strukturelle Ähnlichkeit zu komplexen Fragen, oder Fragen zu komplexen Situationen haben, weil es auf beide keine „richtige“ Antwort gibt und bei beiden ein rationales Kalkül unangemessen ist. Auf die Managementtheorie bezogen bedeutet dies, dass Manager es mit einigen unentscheidbaren Fragen zu tun bekommen werden, auf die es die „richtige“ Antwort nicht gibt. Wenn der Manager es schafft, sich dieses Umstands bewusst zu sein, kann er den Entscheidungsfindungsprozess neu ausrichten und etwa auf Teamarbeit statt auf Excel-Kalkulation setzen oder das unternehmerische Gespür der Faktensammlung vorziehen. Ohnehin werden in Organisationen oft nicht-rationale Entscheidungen gefällt, die dann ex-post mit Verweis auf rationale Gründe, die im Moment der Entscheidung niemand kannte, gerechtfertigt werden (vgl. Weick 2001, S. 124f).

Auch William Ashby schreibt komplexen Kontexten eine entscheidende Rolle zu und fordert ebenso ein Abweichen vom Rationalitäts-Paradigma in Situationen, in denen es nicht förderlich ist (vgl. Ashby 1958, S. 12). Die Methode, um dem Problem fehlender Anwendbarkeit von Rationalität zu begegnen, nennt er „operational research“ (ebd. S. 12). Zusammengefasst geht es hierbei um „kontrollieren statt verstehen“, wobei kontrollieren bei Ashby nicht dem teutonischen, sondern eher dem angelsächsischen „to control“ nah kommt, was im Unterschied zum teutonischen weniger „strenges Kontrollieren aller Einzelteile“ bedeutet, sondern eher ein weicherer Begriff des „Bewältigens“ ist. Was das genau bedeuten soll wird klar, wenn Ashby näher beschreibt, was er mit „operational research“ meint. Zu den drei Charakteristika gehört erstens, dass es bei undurchsichtigen, komplexen Situationen nicht wichtig sein muss, zu verstehen warum etwas passiert, sondern lediglich was passiert (vgl. ebd). Zweitens geht es vor Allem darum, nur die wichtigsten und wirklich relevanten Informationen zu sammeln und gleichzeitig damit zu versuchen, die wenigen Kausalitätsbeziehungen, die man identifizieren und beeinflussen kann, aufzudecken. Es soll vermieden werden, dass zu viel Zeit mit Informationsbeschaffung verbracht wird, um eine vermeintlich rationale Entscheidungsgrundlage zu bilden, weil dies, nach Ashby, bei komplexen Situationen nicht weiter hilft (vgl. ebd.). Drittens geht es um die Einsicht, dass sich das System, in dem man sich bewegt, ständig ändert und damit Lösungen von heute nur für begrenzte Zeit gültig sind. Unter diesen Gesichtspunkten wird auch klar, welche Art von Kontrolle Ashby meint, denn letztlich kann ich kein System im strengen Sinn kontrollieren, das ich nicht verstehe. Der Manager kann nur – und hier ist der Verweis an die Managementtheorie zu finden – sich selbst kontrollieren und den Rest nur im weicheren Sinne begleitend kontrollieren (bewältigen).

Zusammenfassend haben die drei Autoren Ashby, Luhmann und March gemeinsam, dass sie rationales Verhalten in komplexen Situationen als problematisch einstufen und jeweils unterschiedliche, nichtsdestotrotz zusammenhängende Gründe für diese These liefern. Während Luhmann noch relativ deskriptiv bleibt, rufen March zu mehr Torheit und Ashby zur Anerkennung der Beschränktheit der Steuerungsfähigkeit des Managers auf. Aus diesen Überlegungen möchte ich meine zweite Grundregel für das Management von Komplexität vorstellen:

Wenn du feststellst, dass Du Dich in einer komplexen Situation befindest, eine komplexe Entscheidung fällen musst, eine komplexe Frage beantworten musst oder ein komplexes System beeinflussen möchtest, erkenne die Beschränktheit deiner Handlungsfähigkeit und an und ziehe nicht-rationale Methoden den rationalen vor.

Komplexität managen?? – Teil 1/4

Komplexität managen?? – Teil 2/4

Komplexität managen?? – Teil 4/4