Was zeichnet Visionäre aus? Ihr Blick nach vorne, ihre Fähigkeit, Dinge zu sehen, die noch nicht sind, würde ich spontan sagen. „Weit denken, groß denken, offen denken“ sind die Schlagworte, denen ich auf der Suche nach den Eigenschaften eines Visionärs begegne. Und: Sie sind Meinungsmacher, Trendsetter, Richtungsweiser. Oder aus Sicht eines nüchternen Realisten manchmal auch Träumer, Spinner oder Phantasten.
Einem ganz besonderen Visionär bin ich kürzlich begegnet, und das Ergebnis seines visionären Denkens und Handelns war nicht zu übersehen: Johan Huibers, ein niederländischer Schreiner, hatte 1992 den Traum, die biblische Arche Noahs nachzubauen. Nach gut 20 Jahren des Träumens, Planens und Bauens liegt sie nun bei Dordrecht, südöstlich von Rotterdam. 135 Meter lang, 30 Meter breit und 23 Meter hoch. Ein beeindruckendes Bauwerk, seetauglich, und ein Meisterstück der Handwerkskunst.
Eine Touristenattraktion ist sie, die Arche. Ja, und gleichzeitig ist sie mehr als das: Für Johan Huibers ist sie das Resultat seiner Vision. Warum hat er Zeit, Geld und Kraft ist einen schwimmenden Holzkasten gesteckt? Über 20 Jahre hinweg an seinem Ziel festgehalten, dass manch einem anmutet wie ein Märchen aus Tausendundeiner Nacht?
Mich hat an Huibers beeindruckt, dass er weder wie ein Spinner oder Phantast wirkt, sondern eher wie ein handfester Schreiner eben. Und auch Meinungsmacher oder Trendsetter beschreibt ihn sicher nicht, er hat mit seinem Projekt mehr Kritiker als Anhänger angezogen. Den Blick für die Zukunft, den hat er sicher. Und gleichzeitig ein ganz tiefes Bewusstsein für die Vergangenheit. Das Bewusstsein, dass im Fall der Arche Noah sogar zurück geht bis an die Wurzeln der Menschheitsgeschichte. Vision für die Zukunft und Blick für die Geschichte gehören bei ihm zusammen. Damit weist er auf die Ur-Fragen der Menschheit hin: Wo kommen wir her? Wo gehen wir hin? Wo finden wir Schutz vor den Fluten des Lebens? Huibers will uns darauf hinweisen, dass unsere Existenz noch genauso zerbrechlich ist wie vor Jahrtausenden bei Noah. Er wartet nicht auf die große Flut (obwohl der Schutz des Landes vor dem Wasser natürlich etwas ist, was die Niederländer ganz konkret beschäftigt …), sondern meint das eher im übertragenen Sinn: Kennen wir unsere Wurzeln? Wo fühlen wir uns bedroht in unserem Sein? Wer und was gibt uns Schutz? Wie sehen wir unsere Zukunft?
Die Geschichte der Arche Noah stellt uns diese Fragen in geistlicher Hinsicht. Aber auch ohne die Dimension so weit aufzuspannen, sind es für mich wertvolle Fragen, die im Coaching und Training von Bedeutung sind: Haben wir einen Blick für unsere eigene Geschichte entwickelt? Nicht, um in der Vergangenheit hängenzubleiben und in Nostalgie oder Wehmut zu verfallen. Sondern um aus dem Bewusstsein für unsere Wurzeln Kraft zu schöpfen. Wissen wir, wer wir sind und wo wir hin wollen? Die echten Visionäre, glaube ich, sind tief verwurzelt und können deshalb den Blick weiten. Sie sind standfest und weitsichtig zugleich. Sie verbinden Vergangenheit und Zukunft.