07
Feb

Es piept. „4“ höre ich Rene Jaun, den Meister des Starthauses, in die kalte Januarluft zählen. Was tue ich hier? Das ist doch Wahnsinn! Die Luft ist dünn, mir ist kalt und mein Puls ist schon jetzt auf 120. „3“ Seit einem halben Jahr warte ich auf diesen Moment. Oder doch eigentlich schon wieder ein ganzes Jahr. Nach dem Rennen ist ja bekanntlich vor dem Rennen. Aber JETZT soll es wahr werden! „2“ warum JETZT? OK, dann halt JETZT! Die Bedingungen sind perfekt. Seit Tagen ist es kalt, es gibt harten Schnee, strahlenden Sonnenschein. Perfekte Bedingungen für mein nunmehr neuntes Inferno-Rennen. „1“ erschallt es neben mir und der Druck in meinem Kopf steigt unmittelbar an. Ein paar kräftige Schübe mit den Stöcken und gleich geht es in das erste Steilstück des Rennens und die tiefe Hocke. Heuer liegen vor mir 8.300 alpine Meter, verteilt auf 1150 Höhenmeter, die von 1850 Läufern bewältigt werden wollen. Werden die Beine halten? Wird die Kraft reichen? Bin ich gut vorbereitet? Hoffentlich passiert nichts! Ist das Material in gutem Zustand? Halten die Kanten? Stimmt der Wachs?

„Das Material entscheidet“ – „Das Rennen wird im Kopf entschieden“ – „Ich hatte dieses Jahr leider keine Zeit mich vorzubereiten“ – „30 Sekunden Wandsitzen morgens – mehr war nicht drin“ „Ich hatte einen Virus und noch bis gestern Fieber“ – „Dieses Jahr ist aber mit Sicherheit mein letztes“ – „Ich überlege, ob ich dieses Jahr überhaupt an den Start gehe…“ das sind die Themen, mit denen man sich die Tage vor dem Rennen beschäftigt. Denn auch unmittelbar vor dem Rennen, ist vor dem Rennen.

Ob der Wachs stimmt zeigt sich auf der ersten Traverse. Nun gut, der Ski könnte schneller laufen. Aber der Wind pfeift schon ganz schön. Haltung korrigieren. Schön tief bleiben. Oh mein Gott! Noch 10 Minuten in dieser tiefen Stellung? Hat das Rennen tatsächlich schon begonnen? Ja, ich bin mittendrin. Da bin ich wohl schneller, als mein Kopf. Jetzt aber. Konzentration! Einfahrt ins Engetal und direkt auf die nächste Traverse zu. Da muss noch mehr gehen. Ich komme meinem Vorläufer näher. Auf dem Weg zur ersten Zwischenzeit eröffnet sich mir das schönste Panorama des Berner Oberlandes: Eiger, Mönch und Jungfrau. Jetzt ist aber wirklich keine Zeit für Schönes. Warum eigentlich nicht? Wir sind doch hier um Spaß zu haben? Ich halte Ausschau nach dem nächsten Tor. Gleich hinter dem kleinen Stausee brauche ich wieder Kraft und Druck auf den Kanten. Hoffentlich ist die Piste noch nicht zu sehr ausgefahren, sind nicht zu viele Schläge drin. Die Linie passt. Ein paar Kompressionen, Kurven und Beschleunigungen später kommt es auf mich zu: Das Kanonenrohr. Das Nadelöhr des Rennens. Auch wenn es vor etlichen Jahren aufgesprengt wurde, um Skiläufer sicherer passieren lassen zu können, ist es immer noch beeindruckend eng – und steil. Wie geplant steuere ich auf die Innenseite zu, nehme Geschwindigkeit raus – erstaunlich wenig Schläge hier und der Ski steht gut auf dem Eis. Jetzt kommt Bedauern auf, dass es gleich schon wieder vorbei ist – aber noch ein paar Herausforderungen liegen vor mir! Der nächste und steilste Steilhang. Aber auch hier läuft alles nach Plan, ich habe Platz.

„Das Kanonenrohr musst Du nah an der Felswand nehmen“ … „halt Dich an der Höhenlücke innen in der Kurve“ … „in Winteregg dicht an der Tanne entlang“ … „mit drei großen Schwünge kommst du am Besten durchs Kanonenrohr“ – „nein, mindestens fünf!“

Kurzer Blick nach Hinten: Kein anderer Läufer in Sicht. Nach drei weiten Schwüngen geht’s in die erste kurze Traverse – 30 Sekunden später liegt das Kanonenrohr mit seinen vereisten Haarnadelkurven schon hinter mir. Erleichterung macht sich breit und die Begeisterung über den bisherigen Rennverlauf setzt neue Energien frei. Jetzt heißt es: Konzentration und Spannung aufrecht halten. Die spitze Kurve an der Höhenlücke – nur nicht zuviel Speed verlieren – und dann Durchhalten: Der Aufstieg, der eine Kurve nach der Höhenlücke im Wald beginnt. So weit wie möglich den Hang hochgleiten und so spät wie möglich aufmachen – dann aber richtig! Im Laufschritt lasse ich hier zwei, drei Läufer hinter mir. Die Kulisse ist großartig! Anfeuerungsrufe in allen möglichen Sprachen treiben mich den Berg hoch. Das Vorhaben nicht durch den Mund zu atmen hat sich schon lange erledigt. Die kalte Luft in der Lunge wird schon irgendwann wieder warm werden. Mit einem Aufschrei schiebe ich mich über den Kamm. Jetzt wieder in die tiefe Hocke. Es kommt keine Luft in die Lungen. Dieser Schmerz ist fast unerträglich aber darum geht es jetzt nicht. Passiert das hier gerade wirklich? Das ganze Jahr… die Vorfreude… die Vorbereitung… die Hoffnung auf gute Sicht, guten Schnee und ein langes Rennen – habe ich mir das wirklich gewünscht? Ich zwinge mich zu einem Lächeln und beiße die Zähne zusammen. Geschwindigkeit aufbauen. Habe ich wirklich alles gegeben? Da ist noch so viel Kraft in den Beinen. Der Puls ist am Anschlag. Dennoch. Die Bäume vor Winteregg rauschen an mir vorbei. Das Vertrauen wächst. Keine Ahnung, wie meine Zeit gerade ist. Jetzt ist es auch egal. Ich bin mir schnell genug. Und mehr geht grad sowieso nicht. Silber wäre aber doch schön. Oder zumindest Damon Hill zu schlagen. Die letzten Meter… die Muskeln schreien nach Entspannung… die Schläge vibrieren in den Oberschenkeln nach… noch nicht aufrichten… doch, jetzt braucht es ein paar kräftige Schübe – von vorne höre ich den Jubel im Zielbereich… der zieht mich die letzten Meter… völlig ausgepumpt nach Luft gierend überquere ich die Ziellinie… ich höre meinen Namen durch den Lautsprecher… die Zeit höre ich nicht… Hämmern in der Brust, hektisches Pumpen und dann finde ich die Anzeigentafel: 09:44:04. Die Zahl brennt sich ein. Unter 10 Minuten! Immerhin. Dankbarkeit und Erleichterung stellen sich ein. Und auch ein bisschen Stolz. War doch auch gar nicht so schlimm. Ich hätte es mir anstrengender vorgestellt. Irgendwie hab ich vielleicht doch nicht alles gegeben? Wohl aus Respekt vor dem Berg. So viele glückliche Gesichter um mich herum. Menschen fallen sich erschöpft in die Arme. Sportler klopfen sich anerkennend auf die Schulter. Ja, ich liebe Euch auch alle! Wir haben es geschafft! Den Berg bezwungen! Umgehend entstehen die ersten Mythen und Legenden, die auch später das Rahmenprogramm für den Abend beim Käsefondue bilden.

„Ich hab mindestens 5 Leute überholt – dann bin ich gestürzt…“… „Mein entspanntestes Infernorennen“… „Mein Gott war das schnell!“ … „Wie oft ist der Heli geflogen?“ … „Das Wichtigste ist, dass wir alle wieder gesund angekommen sind!“

Ein paar Bier kommen dazu. Eigentlich völlig überflüssig, ich bin immer noch voller Adrenalin. Spitzengeschwindigkeiten von über 100km/h wirken nach. Ich bin doch völlig irre. Das war jetzt aber wirklich das letzte Mal. Ich stehe inmitten des Blumentals und blicke in einen sternenklaren Himmel. Eiger, Mönch und Jungfrau blicken stolz und zwinkernd zu mir hinab, die Birg in meinem Rücken legt ihre Arme „Höhenlücke“ und „Schiltgrat“ zärtlich und beschützend um mich. Noch ein kleiner Höhepunkt. Ein kurzer Dank, dass alles gut verlaufen ist. Vielleicht komme ich doch wieder? Nach dem Rennen ist ja bekanntlich vor dem Rennen.