In meinem letzten Blog habe ich ja ein wenig über den Nutzen des Nichts-Tuns geschrieben. Es gibt da ja nun mehr oder weniger hilfreiche Formen, die eigene Wirkung einzuschränken. Eine eher weniger konstruktive Form ist der Versuch, es allen Recht zu machen. Oder?
Ein zugegebenermaßen nicht ganz taufrischer Witz: Zu einem Rabbi kommt ein Mann und beschwert sich über seinen Nachbarn. Der Rabbi hört sich die Sache an und sagt: „Du hast Recht.“ Zufrieden geht der Mann nach Hause. Kurz danach kommt der Nachbar und klagt seinerseits über die Ungerechtigkeit, die ihm vom Kläger angetan worden sei. Der Rabbi hört sich die Sache an und sagt: „Du hast Recht.“ Der Nachbar geht zufrieden nach Hause. Die Frau des Rabbi, die alles mitbekommen hatte, sagt nun zu ihrem Mann: „Das geht doch nicht. Du kannst doch nicht beiden Recht geben.“ Darauf der Rabbi: „Da hast du auch wieder Recht.“
Ja, wie denn nun? Der Kerl muss doch eine klare Meinung haben! Er muss doch wissen was richtig ist. Wozu sonst ist er Richter? Aufgabe des Richteramtes ist es ja, klar zu unterscheiden was richtig ist, was wirklich ist. Er aber flüchtet sich in allgemeines Wohlwollen und Verständnis. Der Reiz dieses Witzes liegt darin, dass hier zwei völlig unterschiedliche Zugangsweisen zur Welt aufeinanderstoßen: eine empathische Sichtweise, die sich immer in den anderen hineinversetzt und eine beurteilende, die die (eine?) Wahrheit definiert.
Und damit sind wir mitten im Dilemma von Beratung. Beratung soll ja verändern, anders gesagt etwas vom Schlechten ins Gute, mindestens aber ins Bessere bringen. Was nun eine klare Unterscheidung voraussetzt: Was ist gut und richtig, was nicht? Gleichzeitig braucht Beratung aber Empathie und Wohlwollen, die Fähigkeit, der Sicht des Gegenübers mit Anteilnahme zu folgen. In den Beratungsformen Mediation und Moderation umgeht man dieses Dilemma, indem die Rolle des Beraters inhaltlich als strikt neutral definiert ist. Er ist nur für den sozialen Prozess zuständig und überlässt die Unterscheidung zwischen gut und schlecht den Klienten. Aber geht das wirklich? Kann der Berater seine eigene Lebenserfahrung, sein eigenes moralisches Urteil völlig ausblenden?
Vielleicht ist aber auch nur die Frage falsch gestellt. Vielleicht entsteht sie durch eine Verwechslung von Wahrheit und Wirklichkeit. Ob es eine Wahrheit gibt, und wenn ja, welche, wird sich wohl für immer unserer Kenntnis entziehen; auch ein Richter kann (sich) da lediglich entscheiden. Wirklichkeit ist dagegen etwas anderes: Das was eben – wirksam ist.
Ein Beispiel aus dem Coaching: Ein Klient möchte gerne als eine Führungskraft mit Autorität gesehen werden. Gleichzeitig nennt er Harmonie als einen seiner wichtigsten Werte. Er weiß: Beides schließt sich zunächst einmal aus. Als Coach könnte man nun Partei für die eine oder andere Tendenz beziehen. Allerdings würde man damit dem Klienten zu einem Teil Unrecht geben und ihn damit einer der beiden Ressourcen berauben (so er denn dem Coach folgt…).
Tatsächlich muss der Coach beiden Bestrebungen Recht geben und damit auch dem Klienten. Erst indem er beides anerkennt, kann der Fokus auf die Wirkung, die Wirksamkeit gelenkt werden. Es geht nicht darum, ob das eine oder das andere richtig ist, sondern darum, wie es wirkt. Hier ist die Aufgabe von Beratung: (Aus)wirkungen zu zeigen, jenseits von Gut und Böse. Dabei können Lebenserfahrung und ein klares moralisches Urteil sehr hilfreich sein. Und insofern hat der Rabbi ja durchaus Recht…