1. Vertragsgestaltung: Haltungsziele
Stellen Sie sich also vor, Sie sind Trainer und möchten mittels eines Seminars das Thema Komplexität behandeln. Und schon beginnen die Fragen: Was ist eigentlich Komplexität? Was ist nicht komplex? Was davon sollten Seminarinhalte sein? Warum? Welche Ziele sollte die Veranstaltung haben? Mit wem klären Sie diese Fragen? Von wem können Sie Antworten bekommen?
Sich widersprechende Ziele
Nehmen wir an, Sie möchten das Seminar für eine größere Firma halten. Ihr Auftraggeber wäre also zunächst die Geschäftsleitung. In den meisten Fällen wird sie nicht der persönliche Ansprechpartner sein, sondern ein Bildungsbeauftragter. Das bedeutet, dass er die Interessen der Geschäftsleitung interpretiert. Oder interpretiert er die Interessen der Firma? Oder seine eigenen? Diese Unterscheidungen mögen sich akademisch anhören, sind aber durchaus relevant: Was ist, wenn sich diese Interessen widersprechen? Beispielsweise könnte die Geschäftsleitung an einer Komplexitätsreduzierung interessiert sein, damit die Information von unten nach oben managementtauglich gestaltet wird, also kurz, knapp und präzise („Eine Seite maximal.“). Dagegen könnte es im langfristigen Interesse der Firma liegen, Komplexität nicht unzulässig zu reduzieren, damit realistische Strategien und Prognosen möglich werden. („Mit welchen Entwicklungen müssen/können wir rechnen? Wie ist deren gegenseitige Abhängigkeit, welche Wechselwirkungen sind relevant?“) Und der Bildungsbeauftragte möchte nur einfach Tools von Ihnen, damit die Teilnehmer effizienter werden („Machen Sie mir die Jungs mal fit.“). Mit anderen Worten: Sie haben drei völlig unterschiedliche Ziele, die sich auch noch widersprechen, bevor Sie die Teilnehmer gefragt haben, was sie denn eigentlich wollen. Und das Wichtigste kommt ja noch: Was wollen Sie denn?
Irgendwie müssen Sie diese unterschiedlichen Ziele miteinander in Einklang bringen oder sich mit den Beteiligten auf eines einigen. Dieses Verfahren nennt man Vertragsverhandlung.
Überdefinierte Ziele
Die meisten Menschen, die im Bildungsbereich tätig sind, haben den Anspruch, Ihre Ziele SMART[1] zu formulieren. Dagegen ist prinzipiell nichts zu sagen. Allein, in komplexen Situationen sind solche Ziele überdefiniert. Oder, wie Sarte sagte: „Bei einem Fußballspiel verkompliziert sich allerdings alles durch die Anwesenheit der gegnerischen Mannschaft.“ Würden Sie als Fußballtrainer „der zweiten Sturmspitze erklären, wie sie in der 6. Spielminute unter einem Winkel von 22 Grad seitlich von rechts auf das gegnerische Tor zulaufend, 17 m vor dem Kasten den Ball mit einem Steigungswinkel von 10 Grad und 11 Minuten abfeuert, um mit Sicherheit einen Punkt zu machen“?[2]
Überdefinierte Ziele führen im Allgemeinen zur Überplanung und lassen vergessen, dass unvorhergesehene Ereignisse kommen werden. Schlimmer noch, sie verführen dazu, solche Ereignisse zu ignorieren, sie zu übersehen oder nicht wahrhaben zu wollen.
Was heißt das für den Vertrag? Trainings sind meist verhaltensorientiert: der Wunsch ist, dass die Teilnehmer im Anschluss ein bestimmtes Verhalten in Bezug auf eine konkrete, spezifische Situation zeigen, dass sie beispielsweise in stressigen Arbeitssituationen nicht ständig ihren E-Mail-Posteingang offen haben, sondern nur zwei- bis dreimal täglich hineinschauen. Oder dass sie in ihren Projekten bestimmte Meilensteine definieren. Heißt: sinnvolle Werkzeuge sind nur dann sinnvoll, wenn sie auch auf eine konkrete Situation passen; in anderen sind sie so nützlich wie ein Pflaster auf einem Holzbein. Kurz, Tools die ein spezifisches Verhalten ändern, können in komplexen Situationen durchaus passen, aber nur durch Zufall, da der konkrete Zustand per definitionem nicht vorhersagbar ist.
Haltungsziele
Verhalten kommt von Haltung. Hilfreicher ist es, die eigene innere Haltung zu prüfen und zu verändern. Wenn ich die innere Freiheit habe, kein spezifisches Ziel ansteuern zu müssen, habe ich die Möglichkeit, sehr viel flexibler auf die jeweilige Situation reagieren zu können und passende neue Wege zu gehen. Auch in der Wahl der Mittel bin ich sehr viel freier; ich kann mich nach dem umsehen, was mir im Moment zur Verfügung steht und muss mich nicht auf das beschränken, was die geforderte Methode von mir verlangt.[3]
Von den Polynesiern wird gesagt, dass sie die damals kaum lösbare Aufgabe, über weite Strecken im Pazifik doch immer wieder Landziele zu erreichen, mit Hilfe bestimmter Strategien bewältigten. Sie wählten eine Richtung und taten so, als ob in jener Richtung ihr Ziel liegen würde. Dabei war ihnen klar, dass sie das nicht exakt wissen konnten. Deshalb verpflichteten sie sich nicht dazu, genau in die angepeilte Richtung zu fahren, sondern schauten ständig in alle Richtungen und änderten sofort ihre Zielvorgabe, sobald sie interessante Hinweise sahen. Die Funktion des Ziels war also keineswegs, es unbedingt erreichen zu müssen, sondern überhaupt erst einmal in Bewegung zu kommen. Hätten sie sich einer vorgegebenen Zielvorstellung gegenüber »versklavt«, wäre das gefährlich geworden. Sie hätten nicht mehr elastisch auf überraschende Neuinformationen auf ihrem Weg (Feedback) reagieren können. (…)
Wichtig war dabei immer, dass sie sich nicht nur »nach vorne« orientierten, sondern auch »nach hinten« an ihren Ausgangspunkt. So waren sie immer in der Lage, wieder umzukehren und zu ihrer logistischen Quelle zurück zu finden, wenn die Reise zu heikel für sie wurde. Erst dies trug zu ihrer kraftvollen inneren Zentrierung bei, die man für einen erfolgreiches Navigieren in niemals vollständig planbaren Kontexten braucht.[4]
Eine der größeren Schwierigkeiten dabei dürfte sein, die Auftraggeber von der Sinnhaftigkeit solcher Unbestimmheitsräume zu überzeugen. Unbekannte Gewässer, die zwingen, „auf Sicht zu navigieren“ sind prinzipiell unbeliebt. Dabei ist das Aushalten-Können von Unsicherheit eine der Kernkompetenzen im Umgang mit Komplexität. Wie aber soll ein Berater/Trainer, dessen Expertise darin besteht, es (besser) zu wissen, den Nutzen des Nicht-Wissens verkaufen? Was wäre denn für das Unternehmen gewonnen, wenn – so die Befürchtung – der Glaube an die eigene Zukunfts- und Steuerungskompetenz aufgegeben wird?
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[1] Für die, denen nicht sofort einfällt, wofür dieses Akronym steht: Zielformulierungen sollen sein
Spezifisch/Situativ
Messbar
Attraktiv
Realistisch
Terminierbar
[2] Heinz Grote,Bauen mit KOPF – Die Beherrschung von Komplexität durch Selbstorganisation, Berlin,1988, S. 65 zit. nach Dietrich Dörner: Die Logik des Mißlingens. Strategisches Denken in komplexen Situationen. Hamburg, 2000, S. 244.
[3] Ein Konzept, das Claude Lévi-Strauss schon vor fünfzig Jahren theoretisch ausformulierte. Die „Bricolage“ erläutert er in: Das wilde Denken, Frankfurt am Main 1965. Eine neuere Darstellung bietet Michael Faschingbauer: effectuation. Wie erfolgreiche Unternehmer denken, entscheiden und handeln. Stuttgart 2010, S. 36-50.
[4] Zitiert nach Gunther Schmidt: Beratungs- und Coachingpraxis, in: Michael Faschingbauer, 2010, , S. 185