Unser Spaziergang hat uns über Kampanien und Neapel nach Sizilien geführt. Auch auf dieser Strecke mussten wir unsere Pläne ändern. Wir waren aufgebrochen in der Hoffnung, dass sich ein Wanderweg zwischen Neapel und der Stiefelspitze finden würde. Doch wir fanden keine neuen Informationen, mussten befürchten, sehr viel Strecke auf viel befahrenen Straßen oder zugewachsenen Wegen zurücklegen zu müssen. Und da haben wir uns schweren Herzens entschieden, nicht, unter Schmerzen und mit unklarem Erfolg, einen visionären Plan durchzuziehen. Wir zogen einen historisch bewährten Weg dem Risiko vor, nahmen die Fähre von Neapel nach Palermo und gingen dann zu Fuß durch Sizilien. Eine junge Wanderkollegin versuchte den Weg durch Süditalien und musste leider weite Strecken mit dem Zug fahren. Wie ähnlich waren diese Entscheidungen manchen Entscheidungen in realen Projekten.
Und so haben wir nun deutlich mehr Zeit für Sizilien und für die Regeneration danach gehabt.
In Sizilien haben wir uns viel Gedanken über Opfer und Handelnde gemacht. Wir haben Menschen in den (ehemaligen) Mafiahochburgen getroffen, die in Eigeninitiative mit wenigen staatlichen Mitteln einen historischen Wanderweg wieder belebt und in 2 Jahren dort schon über 3.000 Wandersleute begrüsst haben. Oder junge engagierte Menschen kennen gelernt, die in Syrakus ein schickes und erfolgreiches veganes Restaurant betreiben. Wir haben jedoch auch Menschen getroffen, die 2019 noch beklagen, dass es Sizilien heute wirtschaftlich so schlecht ginge, weil bei der italienischen Staatsgründung Mitte des 19. Jahrhunderts zu viele Betriebe und Organisationen von Sizilien abgezogen und in den Norden Italiens verlagert worden seien.
Wir sind nun nach 4 Monaten in Syrakus angekommen. Im Schnitt sind wir an circa 100 Wandertagen „nur“ jeweils gute 20 km gewandert. Doch durch Stetigkeit, Schritt für Schritt, Tag für Tag, haben wir nun unser am 1. Juni noch weit entferntes Ziel erreicht und über 2.000 km zurück gelegt.
Die Wegstrecken, die Übernachtungsorte, die Hitze – all das war nicht immer perfekt. Doch die schöne Entdeckung war:
Wenn man Zeit hat oder sich Zeit nimmt, muss nicht jeder Tag, jedes Ereignis perfekt, ein Event sein. Statt „carpe diem“-Stress mit ewiger Optimierung konnten wir die Tage entspannter kommen lassen, wir hatten ja noch so viele davon.
Natürlich ist unser aller Leben und auch jedes Projekt begrenzt. Jedoch ist es vielleicht Wert zu überlegen, wie wir wichtige Ziele oder Lebensinhalte erreichen. Eine Möglichkeit ist, diese detailliert zu planen und optimiert zu „verfolgen“. Eine andere ist, sich mit einem Ziel auf die Wanderschaft zu begeben, mit einer Mischung aus Stetigkeit, Flexibilität und Gelassenheit.