Was sehen Sie hier?
Wenn Sie eine reine Ansammlung von Linien erkennen, haben Sie genauso Recht wie diejenigen, die hier ein E erkennen. Ihre Offenheit erlaubt Ihnen ein Labyrinth zu sehen oder ganz etwas anderes, das auch „richtig“ sein könnte. Aber: bei aller Offenheit und Neugier kann es dennoch vorkommen, dass Sie in die Irre gehen. Irgendwann müssen Sie sich ein Gesamtbild machen aus den einzelnen Informationen. Wenn schon nach den Erkenntnissen der Neurobiologie Wahrnehmung immer schon Interpretation ist, dann trifft das jedenfalls ganz bestimmt auf die Organisation von Information zu. Hier fügen Sie die einzelnen Bausteine zu einer Gesamtheit, Sie finden Strukturen, Regeln; Sie erkennen Muster und bilden Hypothesen.
Und schon kommt die nächste Klippe in Sicht: Woher weiß ich, dass meine Annahmen richtig sind? Woher kann ich wissen, dass es ein E ist, und kein Labyrinth? Dass das Unternehmen, das Seminar nach den Regeln funktioniert, die ich annehme? Lapidar mit Karl Popper gesprochen: Nie. Tatsächlich ist es unmöglich, eine Annahme letztendlich zu beweisen, sie kann nur endgültig widerlegt werden.[1] Auch hier brauchen wir Offenheit und Neugier, diesmal in der Bereitschaft zur Falsifikation. Die Zahl der Menschen, die aktiv versuchen, ihre eigenen Überzeugungen zu widerlegen, dürfte eher gering sein. Die meisten versuchen genau das Gegenteil: sie versuchen sie zu belegen, ein leider vergebliches Unterfangen. Sie finden fast immer Beispiele dafür, aber nie den Beweis. Aber warum sollten sie auch nach der Widerlegung suchen? Schließlich ist es ja recht schmerzhaft, sich einzugestehen, dass man sich geirrt hat (obwohl es einen später natürlich weiterbringt). Es fällt uns allen leicht, die Tendenz zum Beharren auf Irrtümern bei anderen als Starrsinn oder Engstirnigkeit abzutun. Zumal wir auch oft darauf verweisen, unsere eigenen Grundüberzeugungen in Frage stellen zu können. Aber so weit zu gehen, aktiv nach Informationen zu suchen, die unsere Annahmen widerlegen können, ist für die allermeisten doch ein sehr weiter Weg.
Schließlich ist man ja der Experte! Außerdem drängt die Zeit! Warum sollte man sich da mit Details aufhalten, die den eigenen Hypothesen möglicherweise widersprechen könnten. Und in der Tat, die Frage, welche Informationen in diesem Zusammenhang relevant sind und welche nicht, ist gar nicht so einfach zu beantworten. Wie hoch ist der angemessene Detaillierungsgrad? Ähnlich wie beim Überdefinieren kann man es auch bei der Informationssammlung aus Unsicherheit und Kontrollbedürfnis übertreiben. Man häuft Berge von Fakten an, die nicht nur äußerst unübersichtlich sind, vergessen werden können und den Verwaltungsaufwand erhöhen. Oft steckt noch ein weiteres Motiv dahinter: Die Angst vor der Entscheidung, die Angst, mit der Umsetzung, der Veränderung beginnen zu müssen.
Aber auch das Gegenteil gibt es: Offensichtlich relevante Informationen werden ignoriert, da sie die eigenen Grundannahmen stören. Eine solche Hingabe vor dem eigenen Weltbild entlastet natürlich und macht alles einfacher, ist aber eher ein recht kindliches Nicht-Wahrhaben-Wollen.
Wie findet man den Mittelweg? Wie kann man den der Situation angemessenen Auflösungsgrad bestimmen? Letztlich nur durch Ausprobieren, durch den Test an der Realität. Voraussagen in komplexen Situationen sind nun einmal prinzipiell nicht möglich. Vorsichtiges Testen, nicht übertreiben beim Einsatz der Mittel und genaues Beobachten der Veränderung sind die erfolgversprechendsten Mittel. Alle Annahmen, die Sie treffen, bedürfen in einem Seminar mindestens einer Rekursionsschleife. Intuition ist an dieser Stelle oft eine gute Ergänzung; Neugier und Offenheit helfen ebenfalls. Nicht zu vergessen die Suche nach der Widerlegung der eigenen Annahmen und deren Relevanz.
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[1] Karl Popper: Logik der Forschung, Berlin 2004