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Dez

Otto Dibelius, der ehemalige evangelische Bischof von Berlin-Brandenburg schrieb am 28.12.1966 im Alter von 86 Jahren in einem Brief an den Pfarrer und regierenden Bürgermeister von Berlin, Heinrich Albertz, der dies in seiner „Rede auf Otto Dibelius“zitiert.
„Ich habe in meinem jetzigen Zustand etwas mehr Spielraum als früher, über das menschliche Leben in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nachzudenken, und bin mir darüber klar, dass jetzt die Zeit kommt, in der der große Umbruch an seiner empfindsamsten Stelle durchgestanden werden muss. Es war schon zu Weihnachten zu merken. Was `feiern` eigentlich bedeutet, wissen die Menschen von heute ja überhaupt nicht mehr. Dass man ganz hemmungsfrei, ohne etwas zu wollen, ohne etwas denken zu müssen, einfach beieinander sein kann in der Gemeinschaft froher und hoffnungsvoller Gefühle – das ist für die junge Generation von heute unvorstellbar. Im Neuen Testament der heutigen jungen Generation spricht der Engel: „Siehe, ich verkündige euch große Probleme, an denen alle Welt während der nächsten paar tausend Jahre zu knabbern haben soll!“
Wenn man heute still für sich nachdenkt, stürzen sich in der Tat die Probleme von allen Seiten hernieder. Zu lösen sind sie alle nicht, aber man muss hindurch!
Dafür erbitte ich Gottes Kraft und Weisheit. Ich erbitte nicht zuletzt einen häuslichen Zustand, aus dem ständig ein bisschen Friede, ein bisschen Hoffnung und ein ganz kleines bisschen Glaube fließt.
Und – nicht zuletzt die Erfahrung, dass man von anderen getragen wird. Wenn es einem einmal geschenkt wird, von echtem Vertrauen getragen zu werden, dann ist das eben doch etwas ganz Großes!
Kurz und gut: Gott gehe mit Ihnen ins neue Jahr!“ Otto Dibelius starb knapp 5 Wochen später, am 31.1.1967.

Vorweg, gleichwohl katholisch sozialisiert bin ich nicht gläubig, zumindest nicht im klassischen Sinn und viele Gehorsamkeitsansprüche und -rituale und Widersprüche der Amtskirche lassen mich zu ihr in weiter kritischer Distanz verharren. Aber dieser 50 Jahre alte Text, uns von meinem Schwiegervater, evangelischer Pfarrer im Ruhestand, letzte Woche als Weihnachtsgruß geschickt, berührt mich.

Nicht nur wegen seiner Aktualität in vielen Teilen dieser Welt und auch jetzt hier in Deutschland. Berlin, Paris, Istanbul, Mailand, … die Liste lässt sich fast beliebig fortsetzen.
Und auch nicht nur wegen der Aussage „Wenn man heute still für sich nachdenkt, stürzen sich in der Tat die Probleme von allen Seiten hernieder. Zu lösen sind sie alle nicht, aber man muss hindurch!“ sondern auch und vor allem wegen des Satzes „Und – nicht zuletzt die Erfahrung, dass man von anderen getragen wird.“

In meinen Seminaren sage ich anfangs oft, Gruppen können ein wunderbarer Schutzraum der Geburt neuer Ideen und Entwicklungserprobungen sein oder die Hölle auf Erden. Letzteres befeuert manchmal auch die Geburt neuer Ideen, aber halt nicht von anderen getragen. Und wir müssen doch so oft – nicht immer ganz freiwillig – selbst tragen, warum also nicht auch mal das Wagnis eingehen, sich auf andere Menschen einzulassen?
Meist erleben wir Wegbegleiter, selbst auf dem Weg, manchmal etwas voraus, manchmal dahinter, ein immer wieder wunderbares Geschenk. Das Geschenk, dass die Gruppe beginnt, sich im Spiegel der Individuen und der – oft auch kritischen – Begegnung als Chance auf Ge-Tragen-Sein zu begreifen. Und im Wechselspiel von wachsendem Vertrauen und intensiven Begegnungen Auseinandersetzungen und freudvolle Momente ermöglicht, die allein so nicht möglich scheinen, auch über kulturell, religiöse oder weltanschauliche Themen hinweg.
Das ist, was für uns die Arbeit als Coach so einzigartig und für mich zutiefst befriedigend macht: Mit Menschen gemeinsam an und mit ihrem Wachstum zu arbeiten. Nebenbei im christlichen Sinne: wenn eine Gruppe dies bewirkt, dann wirkt Gott, Allah, El, Jahwe oder wie man ihn sonst auf dieser Welt nennt, dadurch doch auch, oder?

In diesem Sinne wünsche ich Euch viel Momente und erkannte Chancen, sich lastfrei tragen zu lassen und zu tragen.